Wir gehen ins zweite Jahr mit SARS-CoV-2. Bereits im Februar 2020 war absehbar, was sich jetzt zeigt. Man wusste, was kommen wird, wenn man die Entwicklung der Spanischen Grippe verstanden hat. Die Entwicklung der damaligen Todeszahlen in verschiedenen amerikanischen Städten kann man sehr schön im Artikel „How some cities ‘flattened the curve’ during the 1918 flu pandemic“ nachlesen.
Dort zeigt sich, dass Städte, die strikte Schutzmaßnahmen ergriffen haben, eine zweite oder dritte Welle vermeiden oder zumindest sehr abmildern konnten. Insbesondere New York City, das frühzeitig auf Isolation von Erkrankten und Quarantäne von deren Kontaktpersonen setzte, kam vergleichsweise gut durch die Pandemie:
Am schnellsten war New York City, die Stadt, die schon damals niemals schlief. Elf Tage, bevor ein Anstieg der Mortalität verzeichnet wurde, verordneten die Verantwortlichen umfangreiche Isolierungs- und Quarantänemaßnahmen.
Schnell wurden provisorische Einrichtungen errichtet, in die die Kranken, wenn die Krankenhäuser überfüllt waren, eingeliefert wurden. Das Zauberwort Isolation stand schon damals über allem und wer darauf setzte, war auf der richtigen Seite. Wer Kontakt mit Kranken hatte, wurde sofort in häusliche Quarantäne geschickt. Häuser, in denen Quarantäne herrschte, wurden von außen deutlich sichtbar markiert. Die Botschaft lautete: Halte dich fern!
COVID-19: Wie ein Shutdown die Spanische Grippe abtötete
Das gleiche zeigt sich in unserem Umgang mit der Pandemie. Dort, wo am Anfang des Ausbruchsgeschehens konsequent durchgegriffen wurde, sind die Fallzahlen zügig unter Kontrolle gebracht worden. Jeder neue Ausbruch dort kann schnell bemerkt und somit effektiv unterbunden werden.
Eine solche #ZeroCovid-Strategie wurde nicht nur in China gefahren, auch Demokratien wie Taiwan, Australien und Neuseeland sowie Nichtinselstaaten wie Thailand, Südkorea und Vietnam richteten sich nach diesem klaren Konzept 1- und zwar erfolgreich.
Je später man aber mit effektiven Maßnahmen beginnt, desto schwerer ist es, die Maßnahme zum Erfolg zu bringen. Beide Ansätze hat Deutschland im Jahr 2020 ausprobiert:
- Im Frühjahr war der Shutdown am 16.3.2020 gerade noch rechtzeitig genug, um die Explosion der Fallzahlen zu bremsen. Trotz zahlreicher Fälle und vielen Toten war das im europäischen Vergleich noch eher früh. Daraus resultierte eine deutlich niedrigere Sterbequote als beispielsweise in Spanien oder Italien.
- Im Herbst waren die Entscheider in Deutschland viel zu zögerlich. Weder wurde der Anstieg der Fallzahlen vor den Herbstferien für ein energisches Einschreiten genutzt, noch wurde im November, als die Zahlen flächendeckend durch die Decke gingen, ein effektiver Lockdown beschlossen. Dieses harmlose Lockdownchen führte denn auch nicht zu einer deutlichen Reduzierung der Fallzahlen. Es wurde nur ein Plateau erreicht, von dem aus dann die verantwortungslosen Öffnungen zu Weihnachten und Silvester zu weiteren Anstiegen führten. Das war angesichts der bereits bekannten Gefahr von Mutationen aus England und Südafrika, bei denen leichter übertragbare Infektionen festgestellt wurden, eine ausgesprochen dumme Idee. Immerhin fiel das nicht nur der Bundeskanzlerin auf, die von Anfang an strengere Maßnahmen gefordert hatte, sondern auch einem einzelnen Ministerpräsidenten.
Es geht aber auch anders. Selbst von hohen Fallzahlen kann eine Pandemie unter Kontrolle gebracht werden. Yaneer Bar-Yam, ein amerikanischer Physiker, der Experte für komplexe Systeme ist und seit 15 Jahren pandemische Ausbrüche untersucht, hat die erfolgreichen Regierungen bereits im Frühjahr 2020 beraten. Basierend auf den dort gemachten Erfahrungen hat er am 8. Januar 2021 die Strategie verfeinert und an sie auf Twitter erinnert, mit der auch Staaten, die von schweren zweiten (oder dritten) Wellen betroffen sind, innerhalb von nur fünf Wochen den Weg heraus finden können:
Unter https://threadreaderapp.com/thread/1348272830467682304.html kann der gesamte Thread eingesehen werden und unter https://de.endcoronavirus.org/ gibt es Hintergründe dazu auf deutsch. Die Methode beschreibt auch Lutz Donnerhacke unter https://lutz.donnerhacke.de/Blog/Gibt-es-eine-Exit-Strategie-aus-dem-Lockdown.
Die Arbeitsgruppe Gesundheit und Pflege innerhalb der Piratenpartei ist früh zu ähnlichen Schlüssen gekommen. Am 3. und am 8. Januar veröffentlichte die AG Artikel auf der Bundeswebsite der Partei:
Dies stellte den Konsens in der Arbeitsgruppe dar: Die bisher getroffenen Maßnahmen sind unzureichend, denn sie führen nicht zu einer maßgeblichen Absenkung der Fallzahlen. Die zur effektiven Fallverfolgung notwendige Entlastung der Gesundheitsämter ist immer noch in weiter Ferne. Die hohen Fallzahlen führen zwangsläufig zu vielen schweren Verläufen, die das ohnehin herausgeforderte Gesundheitswesen derzeit bereits überfordern. Die drohende Ausbreitung der Virus-Mutanten wird absehbar die bereits schlechte Situation weiter verschlechtern.
Die einzige effektive Gegenwehr gegen das Virus und damit die beste Schutzmaßnahme für ALLE Risikogruppen ist das allgemeine und breitflächige Absenken der Fallzahlen: #ZeroCovid. Das ist nicht nur in der Arbeitsgruppe Konsens. Am 18. Dezember 2020 veröffentlichte eine Gruppe europäischer Wissenschaftler einen Aufruf zum Senken der Fallzahlen:
„Wenn die europäischen Regierungen jetzt nicht handeln, sind weitere Infektionswellen zu erwarten, mit Folgeschäden für Gesundheit, Gesellschaft, Arbeitsplätze und Unternehmen“
WissenschaftlerInnen fordern europäische Strategie zur raschen und nachhaltigen Reduktion der COVID-19-Fallzahlen
Am 10. Januar wies der Twitter-Account der Piratenpartei auf den Artikel vom 3. Januar hin:
Und diese Veröffentlichung führte am 14.1.2021 zu Kritik. Die AG könne nicht für die Gesamtpartei sprechen, die Forderung nach einem strikteren Lockdown sei nicht von der Beschlusslage gedeckt, und die geforderten Maßnahmen hätten keine Evidenz.
Diese Vorwürfe sind falsch. Erstens ist die AG ist vom Bundesvorstand beauftragt, gesundheitspolitische Positionen zu entwickeln und Aussagen im Sinne der Partei zu verfassen. Zweitens ergibt sich die Vereinbarkeit der Positionen der AG aus dem beschlossenen gesundheitspolitischen Programm insb. in Verbindung mit der Präambel des Programms.
Das Leitbild der Piraten ist eine Ordnung, die sowohl freiheitlich als auch gerecht als auch nachhaltig gestaltet ist.Freiheitlich ist eine Gesellschaftsordnung, in der die individuelle Entfaltung des Menschen im Mittelpunkt steht. Sie wird durch das Gemeinwohl sowohl gestärkt als auch beschränkt. Deshalb sind Freiheit und Verantwortung untrennbar miteinander verbunden.Gerecht bedeutet, dass die Rahmenbedingungen in Wirtschaft und Gesellschaft so gestaltet sind, dass sowohl eine Teilhabe als auch ein angemessenes Leben grundsätzlich gewährleistet werden. Nachhaltig ist ein auf Dauer angelegter, verantwortungsvoller Umgang mit materiellen und immateriellen Ressourcen, der Umwelt und der Gesellschaft.Da Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit universelle Grundwerte sind, wollen wir auch über den nationalen Rahmen hinaus auf die Berücksichtigung dieser Werte hinwirken.Deshalb wollen wir so handeln, dass auch in Zukunft die Grundlagen für eine würdige Existenz in Freiheit vorhanden sind.
Parteiprogramm der Piratenpartei Deutschlands
Und gerade die Verbindung von Freiheit und Verantwortung zwingt dazu, die Grundrechtseingriffe, die ein Lockdown bedeutet, so kurz wie möglich zu gestalten. Dies ist aber nur möglich, wenn der Einschnitt effektiv ist und zu der notwendigen Reduktion der Fallzahlen führt. Nicht-effektive Einschränkungen werden zwangsläufig zu längeren Einschnitten führen, weil sie vielleicht aus freiheitlichen Motiven mehr Freiheiten erlauben, aber eben das Virus dadurch schlechter an der Ausbreitung hindern. Das ist seit der Spanischen Grippe bekannt, und somit gibt es Evidenz für Lockdowns.
Wenn man regelmäßig dem sehr empfehlenswerten Podcast NDR-Corona-Update folgt, bei dem wöchentlich die Wissenschaftler Prof. Dr. Christian Drosten und Prof. Dr. Sandra Ciesek zu Wort kommen, weiß man bereits um die Wirksamkeit solcher nicht-pharmazeutischen Interventionen (NPIs). Diese schränken unsere Freiheiten natürlich ein, aber eben noch nicht genug, um der Pandemie angemessen zu begegnen. Dass dringend weitere Einschränkungen der Mobilität notwendig sind, bestätigte auch das RKI bei seinem Pressebriefing am 14. Januar 2021, also just an dem Tag, an dem unsachliche Kritik geäußert wurde.
Im gesundheitspolitischen Programm ist die Forderung von evidenzbasierter Medizin eine der Kernaussagen:
Zur Bekämpfung von Fehlversorgung setzen wir PIRATEN zudem auf die Förderung der evidenzbasierten Medizin, d.h. dem Treffen von versorgungsrelevanten Entscheidungen nach umfangreichen Recherchen in den verfügbaren Quellen des Wissens.
Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2017
Und genau um eine solche evidenzbasierte Maßnahme handelt es sich bei einem strikteren Lockdown. Freiheit geht nur mit Verantwortung. Und der zeitweise Verzicht auf Freiheit führt zu einer Verkürzung der Dauer aktuellen Grundrechtseingriffe. Dafür gibt es Evidenz.
Eine weitere Forderung der beschlossenen Programmatik ist die Prävention:
Prävention zur Vermeidung von Erkrankungen ist eine zentrale Aufgabe des Gesundheitswesens. Dabei umfasst Prävention neben der Früherkennung von Krankheiten auch die Analyse und Veränderung von krankheitsfördernden Bedingungen in Umwelt, Gesellschaft und Beruf.
Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2017
Die Analyse der krankheitsfördenden Bedingungen in Umwelt, Gesellschaft und Beruf führt dazu, dass man Prävention eben nur durch eine auf #ZeroCovid ausgerichtete Strategie erreicht. Das Ziel ist mehr Gesundheit, aber auch mehr Freiheit für alle. Die angelaufenen Impfungen – ich werde am kommenden Freitag meine zweite Impfdosis erhalten – werden uns dabei helfen.
In Neuseeland, das wie oben beschrieben resolut gegen das Coronavirus vorgegangen ist, finden aktuell Sommer-Festivals statt. Mit vielen, vielen Menschen, die dicht an dicht feiern. Dort gibt es aktuell keine Fälle, auch weil immer dann, wenn Fälle eingeschleppt werden, diese sofort aufgespürt und durch Isolation und Quarantäne gestoppt werden. Denn die Gesundheitsbehörden müssen nicht wie in Europa aus einer Überforderung heraus reagieren, sondern können dauerhaft wachsam sein. Die gleiche Taktik wenden auch China, Australien und die anderen Staaten an, die erfolgreich die Ausbrüche gekappt hatten. In Südkorea hatte man zwischenzeitlich nachlässig gehandelt und Lockerungen zu früh beschlossen, was zu einem Anstieg von Fällen sorgte. Diese waren jedoch auf einem mit Europa sehr niedrigem Niveau, die gemeldeten Infektionen langen ungefähr auf der Höhe der aktuell in Deutschland zu beklagenden Todesfälle. Das ist nicht gut, aber viel besser zu handlen.
Ich will übrigens, dass wir im Sommer wieder sowas machen können wie aktuell in Neuseeland. Dafür müssen wir aber im Frühjahr #ZeroCovid erreicht haben.
PS: Es gibt seit einigen Tagen eine Initiative, die ebenfalls den Hashtag #ZeroCovid benutzt. Diese deckt sich nicht mit der von Yaneer Bar-Yam beschriebenen Strategie und greift auch sonst mit explizit antikapitalistischen Forderungen eher daneben. Das ist dann wieder eher nix mit Freiheit und Verantwortung.
- Erstveröffentlichung im März 2020[↩]
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