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Gesundheitspiraten fordern Polizei zum besseren Umgang mit Betroffenen von psychischen und chronischen Erkrankungen auf

In einem nur durch eine Straßenlaterne beleuchteten Hinterhof ist der Kreideumriss einer Person zu sehen. Davor steht ein Aufsteller der Polizeit mit der Nummer 12 an einer Geldbörse, darum herum sind weitere Aufsteller an Gegenständen platziert

Triggerwarnung: Der folgende Text behandelt sensible Themen wie Gewalt, , und . Diese Themen könnten bei einigen Lesenden negative Gefühle und/oder Erinnerungen hervorrufen. Falls Du selbst unter psychischen Belastungen leidest oder Unterstützung benötigst, zögere nicht, Dir Hilfe zu holen. Die Telefonseelsorge steht Dir jederzeit anonym und kostenlos zur Verfügung:

  • Telefonseelsorge Deutschland: 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222  
  • Kinder- und Jugendtelefon (Nummer gegen Kummer): 116 111  
  • Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“: 08000 116 016  

Spreche mit vertrauten Personen oder professionellen Beratenden, wenn Du Dich überfordert fühlst. Du bist nicht allein.


Vorweg möchten wir unseren Lesenden mitgeben, dass wir als Arbeitsgemeinschaft (kurz AG) + Gewalt, egal in welcher Form, nicht gut heißen. Wir verurteilen Gewalt aufs Schärfste und fordern daher immer und Sensibilisierung.


In unserem heutigen Blogbeitrag möchten wir uns auf den aktuellen Frag-den-Staat-Artikel beziehen, da auch wir seit längerem Polizeigewalt gegen Menschen mit psychischen Erkrankungen oder anderen Einschränkungen beobachten. Zudem wollen wir uns mit den Gegebenheiten der Polizeiarbeit im Umgang mit Betroffenen befassen, die an psychischen Erkrankungen oder anderen chronischen Erkrankungen leiden. Auslöser hierfür sind der aktuelle Tod des 70-jährigen Najib Boubaker, der an Epilepsie erkrankt war [1], sowie der Tod von Mouhamed Dramé, einem 16-jährigen Senegalesen aus Dortmund, der suizidal war. Aufgrund des Messers, das er mit sich führte, stirbt Mouhamed Dramé am Nachmittag des 08. August 2022 im Hof einer Jugendhilfeeinrichtung in Dortmund. [2] Geheime Dokumente aus NRW von #FragDenStaat wurden durchgearbeitet. Bei Recherchen rund um Polizeigewalt gegenüber psychisch Erkrankten stießen wir auf den jüngsten Fall vom 03.04.2024 in . Die Tagesschau sowie die taz berichteten. [3]

Menschen mit psychischen Erkrankungen stellen in der Regel keine Gefahr für andere dar

Da jede Medaille zwei Seiten hat, sind alle Vorkommnisse und Ereignisse immer von mehreren Standpunkten und Perspektiven aus zu betrachten. Daher hat sich die aufgrund der Häufung von Berichten über Polizeigewalt mit den Gegebenheiten der Polizeiarbeit im Umgang mit Betroffenen, die an psychischen Erkrankungen leiden oder, wie im aktuellen Fall an Epilepsie erkrankt sind, befasst. In dem Bericht aus der taz [3] vom 03.04.2024 können wir entnehmen, dass der Gambier Lamin Touray mit acht Schüssen von der Polizei erschossen wurde. Unmittelbar hiernach forderte z. B. die Flüchtlingshilfe Niedersachsen e.V. [4] die vollumfängliche Aufklärung dieses Falles. Die Staatsanwaltschaft stellte aber die Ermittlungen gegen 14 Polizist:innen sowie gegen den suspendierten rassistischen Beamten ein. [5]

Parallelen – was 2022, 2024 und 2025 geschehen ist

2022 – Mouhamed Dramé, der 16 jährige aus dem Senegal, saß apathisch mit einem ca. 20 cm langem Küchenmesser im Hinterhof einer Jugendeinrichtung. Er soll suizidal gewesen sein, wobei es hierzu viele Widersprüche gab im Verlaufe der Ermittlungen und während des Prozesses.

Der junge Senegalese starb durch Polizeigewalt infolge von insgesamt sechs Schüssen durch eine Maschinenpistole. Zuvor soll Mouhamed Dramé auf die Polizisten zugegangen sein, mit dem besagten Küchenmesser in der Hand.

2024 – Der 46 jährige Gambier Lamin Touray war psychisch angeschlagen, berichteten Freund und Freundin des Betroffenen. Nach einer Kontrolle in öffentlichen Verkehrsmitteln ging es dem Gambier psychisch schlecht. Er wurde im öffentlichen Verkehrsmittel kontrolliert und ohne Fahrschein angetroffen. Er landete wegen Widerstand und tätlichen Angriffs in Gewahrsam der Polizei. Die Staatsanwaltschaft stellte fest, dass keine Fluchtgefahr bestand und entließ den Ghanaer aus dem Gewahrsam. Angekommen bei der Freundin, übersät mit Schürfwunden und entstellt, redete er wirres Zeug und verhielt sich auffällig. Ein paar Tage vorher hatte er seinen Job verloren. Dies setzte dem Mann aus Gambia auch sehr zu. 

Ein Freund und seine Freundin riefen die Polizei eigentlich, um dem psychisch Leidenden Hilfe zukommen zu lassen. Von einem Hin und Her in den Notfallbehörden berichteten Freund und Freundin des Betroffenen. Zuletzt kam ein Rettungswagen zur Wohnung des Betroffenen, dessen Besatzung polizeiliche Unterstützung anforderten, da der Mann aus Gambia tatsächlich psychisch total verwirrt war. Die ganze Situation lief aus dem Ruder, als Lamin Touray in seiner Verwirrung mit einem Messer vor die Polizeibeamten trat. Kurz drauf fielen die Schüsse.

2025 – Der 70-jährige Dortmunder Najib Boubaker verstarb vor einer Woche durch Schüsse seitens Polizist:innen. Nachdem er wohl an diesem Tag mehrere epileptische Anfälle hatte, wollten die Rettungssanitäter ihn mit in das Krankenhaus nehmen, was er aber ablehnte. Schon hier habe er zu einem Messer gegriffen, worauf hin das Personal des Rettungsdienstes die Polzei rief.

Lt. Aussagen der unmittelbaren Nachbarn hinkte Najib Boubaker stark, so, dass er gar nicht hätte «schnellen Schrittens» auf die Polizist:innen zu gehen können. Zudem kommt erschwerend hinzu, dass lt. Nachbarn die Einsatzkräfte vor Ort nicht deeskalierend auf die Situation reagiert haben. „Nicht ein Polizist hat mal versucht, vernünftig mit Najib zu reden. Die haben einfach alle nur geschrien.“ [1]

Ein Problem scheint zu sein, dass die Polizei meist gerufen wird, weil Selbstgefährdung von Personen mit psychischen Erkrankungen von vertrauten Personen erkannt wird wird, und diese die Polizei rufen, um die Person zu schützen. Die Polizei hingegen nimmt Fremdgefährdung wahr und wendet Mittel an, die bei tätlicher Gewalt angemessen sein können, aber bei Menschen mit selbst gefährdenden Verhaltensweise offenbar unangemessen sind.

Fragen und Forderungen der Gesundheitspiraten:

Wir stellen uns die Frage, warum in allen der oben geschilderten Fälle sofort geschossen wurde und es keine Bemühungen der Deeskalation gab.  Es bestand offenbar keine unmittelbare Bedrohung der anwesenden Polizist:innen. Zudem arbeitete die Spurensicherung unsensibel: Der getötete Lamin Touray lag stundenlang nackt auf der Terrasse ohne Sichtschutz, berichtete eine Nachbarin sichtlich schockiert. Haben die Polizeibeamt:innen keine Ahnung von Menschenwürde und ethischem Handeln? 

Werden weder die Beamt:innen der Spurensicherung noch die ausführenden und ermittelnden Polizeibeamt:innen hinsichtlich psychischer Erkrankungen bei Menschen, die mutmaßlich kriminelle Handlungen vornehmen, im Umgang mit diesen geschult? 

In wurde nach einem solchen Fall eine Weiterbildung der Polizeibeamt:innen angeordnet. Hier werden in den Polizeirevieren die Beamt:innen unterrichtet. Das Gute ist, es sind Fachleute der verschiedenen medizinischen sowie psychiatrischen Einrichtungen vor Ort und unterrichten Abläufe im Umgang mit den Patienten, die in Einrichtungen sind und was es besonders zu beachten gilt. [6]

Aufgrund der steigenden Fallzahlen von Polizeigewalt gegen Menschen mit psychischen Erkrankungen und anderen Leiden, fordern wir dringend Schulungen der Polizist:innen durch Fachleute aus dem psychiatrischen Bereich. Denn jede psychische Erkrankung hat ein anderes Krankheitsbild. Auch die Methodik im Umgang mit betroffenen Patienten ist anders und spielt hier eine große Rolle.  

Eine Methode, die die Polizei anwendet, ist unter anderem die Heuristik. [7] Diese wird beschrieben als ein analytisches Vorgehen bei kaum vorhandenem Wissen über ein System, dass mit Hilfe spekulativer Schlussfolgerungen Aussagen über ein System beinhalten. Die optimale Lösung lässt sich damit nicht herbei führen. Die Güte der Heuristik wird bestimmt durch den Vergleich mit einer optimaleren Lösung. 

Die Mitglieder der AG Gesundheit + Pflege fordern daher ebenfalls die notwendigen Verbesserungen im Umgang mit Personen in psychischen Krisensituationen sowie im Umgang mit psychisch labilen Menschen, indem bei der polizeilichen Fortbildung Konzeptionsinhalte einer heuristischen Gefährdungsbeurteilung stärker beleuchtet werden. Dies ist wichtig im Umgang mit Personen in psychischen Ausnahmezuständen.  

In NRW läuft seit Mai 2022 das Projekt zur Früherkennung von und zum Umgang mit Personen, die ein Risikopotenzial (PeRiskoP) darstellen.[8] Wenn eine gewaltbereite oder waffenaffine oder als Waffen nutzbare Gegenstände führende Person in Verbindung mit psychischen Auffälligkeiten aufgefunden wird, soll das Konzept der Deeskalation greifen. Hierunter versteht man eine Entschärfung von Konflikten im polizeilichen Handeln, gänzlich ohne Gewaltanwendung, nämlich nur durch Gesten und Kommunikation.[9] Im Nachgang sollen dann Fallkonferenzen gemeinsam mit Behörden wie Gesundheitsämtern oder psychatrische Einrichtungen über das Risikopotenzial sprechen und eine bestmögliche und schnellstmögliche Vorgehensweise erarbeiteten. 

Wir fordern zudem multiprofessionelle Teams, bestehend aus unter anderem Ärzten und Psychologen, die in Weiterbildungen den Polizeibeamt:innen aufzeigen, wie gehandelt werden kann bzw. muss, wenn zum Beispiel ein Mensch in einer psychotischen Krise mit Gewaltbereitschaft gehändelt werden kann. Ohne Waffengewalt ausgehend von der Polizei. Auch so genannte Bodycams für Polizist:innen sollten vermehrt genutzt werden. Aufgrund der von uns geforderten Einhaltung und Umsetzung der UN-Behindertenrechtkonvention [10] ist zudem eine Kennzeichnungspflicht für Polizist:innen einzuführen. [11] Dieses soll zum Beispiel via Pseudonym erfolgen, z. B. mittels einer Kennzeichnungsnummer.

Es muss während der Ausbildung bzw. des Studiums von Polizist:innen vermittelt werden, welche Maßnahmen beim Umgang mit Menschen mit psychischen Erkrankungen die bestmöglichen Ergebnisse erzielen. Denn es ist immer noch beunruhigend, wie viele Menschen mit psychiatrischen Auffälligkeiten durch Polizeikugeln ums Leben kommen. 

Hier auch in den Fokus zu nehmen ist, dass viele Geflüchtete und Asylbewerber:innen sich in einem schlechten psychischen Zustand durch die Flucht befinden. Daher müssen wir auch darauf aufmerksam machen, dass Integrationsarbeit dringend erfolgen muss. Dazu braucht es auch psychologischen Beistand für die Geflüchteten.

, Mitglied der AG Gesundheit + Pflege, ergänzt: «Mit einer bundesweiten Notrufnummer für Menschen in psychischen Ausnahmesituationen hätte übrigens niemand die Polizei rufen müssen».

Quellen:​​​​​​​

Quelle [1]: https://taz.de/Toedliche-Schuesse-der-Polizei/!6077050/
Quelle [2]: https://fragdenstaat.de/blog/2023/05/03/polizei-krisen/
Quelle [3]: https://taz.de/Toedlicher-Polizeieinsatz-in-Nienburg/!5999138/
Quelle [4]: https://www.nds-fluerat.org/58906/aktuelles/gerechtigkeit-fuer-lamin-touray-fluechtlingsrat-niedersachsen-fordert-lueckenlose-aufklaerung-des-toedlichen-polizeieinsatzes/
Quelle [5]: https://taz.de/Nach-toedlichen-Schuessen-auf-Lamin-Touray/!6036804/
Quelle [6]: https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/mannheim/polizei-schult-mitarbeiter-verstaerkt-im-umgang-mit-psychisch-kranken-100.html
Quelle [7]: https://www.kriminalpolizei.de/ausgaben/2018/juni/detailansicht-juni/artikel/die-tatortuntersuchung.html
Quelle [8]: https://www.land.nrw/pressemitteilung/projekt-periskop-kommt-ganz-nordrhein-westfalen-zum-einsatz
Quelle [9]: https://www.kriminalpolizei.de/service/praevention-kompakt.html?tx_dpnglossary_glossary%5Baction%5D=show&tx_dpnglossary_glossary%5Bcontroller%5D=Term&tx_dpnglossary_glossary%5Bterm%5D=198&cHash=db828edd4f70321aac3b615fad248f7d
Quelle [10]: https://wiki.piratenpartei.de/Bundestagswahl_2025/Wahlprogramm#Umsetzung_der_UN-BRK
Quelle [11]: https://wiki.piratenpartei.de/Bundestagswahl_2025/Wahlprogramm#Kennzeichnungspflicht_f.C3.BCr_Polizisten