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Über Zwangsmaßnahmen in der Pflege

Auch im Rhein-Erft-Kreis wird zu viel fixiert

Es gibt mittlerweile eine Antwort der Kreisverwaltung Rhein-Erft auf die Anfrage “Zwangsmaßnahmen in der Pflege”, die nach dem Ausmaß von Freiheitsentziehenden Maßnahmen in der Pflege (FeM) fragte. Die Antwort ist gleich in mehrerlei Hinsicht unbefriedigend.

So stellt die Verwaltung fest, dass “die Erfassung und Auswertung entsprechender Fallzahlen keinen objektiven Rückschluss auf eine mögliche aktuelle Gefährdung von durch Fixierung betroffenen Menschen” lasse, denn eine entsprechende Analyse sei “kein valider Indikator für die Bewertung der Betreuungsqualität.” Dem ist zu widersprechen: Hohe Fallzahlen sprechen in der Altenpflege grundsätzlich von einem zu leichtfertigen Umgang mit diesem massiv grundrechtseinschränkenden Mittel, und jede einzelne körpernahe Fixierung stellt bei Menschen mit Demenz eine deutlich größere Gefährdung für Leib und Leben dar als die häufig als Begründung für das Hochstellen von Bettgittern oder Anlegen von Gurten vorgeschobene Sturzgefährdung.

Die Verwaltung gibt an, dass sich “einrichtungsbezogene Kriterien, wie z.B. die Platzzahl der Einrichtung, der häufige Wechsel im Bewohnerbestand, die individuell vorliegenden Krankheitsbilder und der Pflegeschwerpunkt der Einrichtung nicht unerheblich auf die Anzahl freiheitsbeschränkender oder freiheitsentziehender Maßnahmen” auswirke aus und daher “eine zuverlässige Analyse des Einsatzes von FeM allein durch Zahlenvergleich nahezu unmöglich” sei. Genau deswegen fragten wir nach Zahlen der unterschiedlichen Fixierungsarten, die aber nicht beantwortet wurden, weil keine Zahlen mehr erhoben würden. Seltsamerweise verweist die Verwaltung darauf, dass der Gesetzgeber die Pflicht zur Erfassung von Daten durch die Wohn- und Betreuungsaufsicht 2014 gestrichen habe, nennt aber in einem Beispiel auch Zahlen von Qualitätsprüfungen durch MDK/PKV, die bis ins Jahr 2016 reichen. Bin ich kleinlich, wenn ich meine, dass sich die Wohn- und Betreuungsaufsicht diese aktuellen Zahlen zunutze machen und Auffälligkeiten prüfen sollte? Woran liegt es, dass in einer Einrichtung bei nahezu gleicher Platzzahl teilweile sechsmal so hohe Fallzahlen vorliegen als bei anderen? Die z.T. erschreckend hohen Fallzahlen sind mit den genannten Umständen nicht begründbar.

Zudem erlaubt sich die Kreisverwaltung dabei einen Formulierungskniff. Sie schreibt: “Dabei ist davon auszugehen, dass in allen vom MDK geprüften Fällen die fachliche Notwendigkeit für eine richterliche Genehmigung vorlag und somit von rechtmäßigen FeM auszugehen war.” Der Begriff “Notwendigkeit” bezieht sich hier auf die Notwendigkeit einer richterlichen Genehmigung, nicht auf die Notwendigkeit der Fixierungsmaßnahme. Die Genehmigung einer durchgeführten Freiheitsentziehenden Maßnahme ist immer dann notwendig, wenn weder die betroffene Person rechtswirksam darin eingewilligt hat noch der Umstand vorliegt, dass die Person nicht mehr in der Lage ist, willentlich Fortbewegungshandlungen durchzuführen. Was hiermit nicht geprüft wird:

  • Ist die FeM pflegefachlich überhaupt notwendig und angemessen?
  • Wurden Alternativen zu FeM geprüft und wenn ja, warum wurden sie verworfen?

Fun fact: Auch formal rechtskonforme Fixierungen können aufgrund fehlender fachlicher Notwendigkeit und Angemessenheit rechtswidrig sein, aber das fällt dann weder Richtern noch Prüfbehörden auf.

Zur Beruhigung der Leser schreibt die Kreisverwaltung, dass Mängel sofort abgestellt würden und nötigenfalls die Möglichkeit bestehe, “Anordnungen zu treffen, die entweder eine FeM verhindern oder einen Genehmigungsantrag initiieren.” Die Aufsichtsbehörde würde die Verhinderung natürlich nur bei offensichtlich rechtswidrigen FeM überhaupt erwägen, nicht jedoch bei pflegefachlich unnötigen. Diese Prüfung überlässt die Wohn- und Betreuungsaufsicht offenbar den Einrichtungen selbst und nimmt dabei hohe Fallzahlen, die zumindest andeuten, dass die Prüfung auf alternative Handlungsweisen möglicherweise unzureichend sein könnte, in Kauf. Es wird lediglich darauf verwiesen, dass bezüglich der freiheitsentziehenden Maßnahmen “Möglichkeiten der Vermeidung festgelegt werden” müssen, dass die “Anordnung, Überwachung und Durchführung von FeM [..] dokumentiert werden” muss und dass die “Implementierung entsprechender Konzepte [..] weitestgehend abgeschlossen” sei. Die Praxisumsetzung dieser strukturellen Vorgaben würde durch die Wohn- und Betreuungsaufsicht im Rahmen der örtlichen Regel- und Anlassprüfungen kontrolliert. Was dabei nicht geprüft wird, ist aber entscheidend: Welche grundrechtsschonenden, bewegungsfördernden Maßnahmen wurden als Alternative zu der Fixierung verworfen und warum? Dieser Knackpunkt ist nicht Teil des beschriebenen Prozesses, und die Wohn- und Betreuungsaufsicht wäscht ihre Hände in Unschuld. So schiebt der Staat die Überprüfung der Angemessenheit auf die Heime ab und privatisiert dadurch Freiheitsentzug.

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