BILLGOTCHI
Die offizielle Gebrauchanweisung

 

Am 10. Oktober 1996 startete der japanische Spielwarenhersteller Bandai Testverkäufe mit 3000 Exemplaren seines virtuellen Haustiers Tamagotchi. Das eiförmige Minispielzeug mit dem 16*32-Pixel-Display entwickelte sich in Rekordzeit zur Seuche. Fünf Wochen später rissen die Japaner innerhalb von zwei Tagen die gesamte Produktion von 80.000 Stück aus den Regalen. Inzwischen ist der Boom international, der Hersteller kommt nicht mit der Produktion nach, und überall gibt es traurige Kinder (3 bis 80 Jahre), weil sie keinen Tamagotchi haben.

Aber nicht weinen, Leute. Wer einen PC hat, besitzt damit schon lange ein virtuelles Haustier, gegen das Tamagotchi ein lahmer Abklatsch ist - auch was den kommerziellen Erfolg angeht. Hier die offizielle Bedienungsanleitung.

  • AUSSCHLÜPFEN

    Nach der Installation von Windows (Version egal) dauert es nur ein paar Minuten, und der kleine digitale Quälgeist pellt sich aus seiner Shell. Keiner weiß genau, wie er aussieht. Aber er ist frech, hinterlistig und schwer erziehbar. Immer zu Streichen aufgelegt, hält das putzige Kerlchen den Mauszeiger fest, verwüstet den Schreibtisch seines Herrn oder schaltet heimlich die Grafikauflösung um. Selten schaut der Bildschirm so aus, wie man ihn verlassen hat, womit auch dem stursten Technik-Gläubigen klar sein müßte: Da drin lebt was!

  • FÜTTERN

    Kriegt Billgotchi nicht regelmäßig Happa-Happa, wird er sauer. Wer Hinweise über den Zustand seines Haustieres sucht, findet sie unter 'Einstellungen/Systemsteuerung/System/Leistungsmerkmale' – trotzdem sagen sie nichts aus. Gotchi täuscht gern mit der Auskunft 'optimal konfiguriert' und benimmt sich dennoch daneben. Er kommuniziert mit spaßigen Botschaften vom Kaliber 'reagiert nicht' oder 'die Anwendung ist überlastet'. Gotchilein setzt drollige Buttons, auf denen 'Task beenden' steht - die aber trotzdem nicht funktionieren.

  • A-a

    Besonders ulkig ist es, wenn der Kleine seine Platte vollkackt. Alle Nase lang läßt er riesige Stinkerhäufchen fallen, die mit einer unanständigen Wellenlinie beginnen und gern auf '.tmp' enden. Doch nicht immer sind die Abfälle so klar zu erkennen. Seine Ordner scheißert er schnell mit 50, 60 MByte DLL-Böllern zu. Aber Obacht beim Aufputzen: Billgotchi wird todkrank, wenn man eine seiner Lieblingsausscheidungen entsorgt.

  • DISZIPLIN

    Ein Haustier muß von Zeit zu Zeit geschimpft werden. Bei Billgotchi heißen solche Strafen "Treiber". Die Freunde des kleinen Fieslings beschenken einen mit Unmengen dieser ausgefuchsten Dinger, aber sie sind so gebaut, dass sie vor allem Herrchen aua machen. Im Billgotchi-Kauderwelsch heißt das "veraltet" oder "schlampig programmiert".

  • SPIELEN

    Um ein Tierchen muß man sich kümmern. In unvorhersehbaren Abständen macht Billgotchi auf sich aufmerksam und schickt Herrchen zum Gassigehen: Update kaufen. Und dann muß Herrchen stunden-, ja oft tagelang mit Billgotchi spielen. Und zwar nicht einfach bloß ein bißchen Knöpfe drücken, nein, das Repertoire ist enorm: Bücher kaufen (und lesen!), Hotlines anrufen (und dabei teure Musik hören!) oder gar (ehemalige) Freunde zu sich einladen, zum Mitspielen.

  • LICHT AUSMACHEN

    Irgendwann muß auch Billgotchi schlafen gehen. Früher knipste man einfach mit dem dicken Schalter das Licht aus, aber seit Gotchi so hoch entwickelt ist, besteht er auf einem komplizierten Zu-Bett-Geh-Ritus. Aus unerfindlichen Gründen sagt er dazu "Herunterfahren" (in die Hölle?). Selten geht er gleich schlafen, sondern fragt noch dummes Zeug ('möchten Sie die Änderungen in ^#<kurzLT34_.bj% speichern?'). Bockig wird unser Liebling, wenn er alten Kram aus der SpielzeugDOSe bekommen hat. Dann nuschelt er todmüde 'zuerst Anwendung beenden', ohne Herrchen das dazugehörige Geheimnis (Strg-Alt-C oder so) zu verraten. Ein echtes Miststück wird Billgotchi, wenn man vor seinem Abendgebet etwa den Scanner ausschaltet: Dann geht er nur mit roher Gewalt in die Heia, und keiner weiß, was für ein Monster er am nächsten Morgen ist!

  • DAS ENDE

    Kann Billgotchi sterben? Die grausige Antwort: nein! Irgenwie krabbelt er jedesmal wieder aus der Grube. Wie oft schon gab es Hoffnung, dass das alte Biest für immer über den Jordan ist, aber jedesmal brachte der Hersteller ein neues, noch bunteres Billgotchi heraus, und die Seuche hielt an. Ja, sie erfaßt sogar beständig mehr Menschen. Abermillionen von Billgotchi-Herrchen haben die Kellerregale voll mit den alten Schachteln der teuren alten Versionen. Aber irgendwie ist er uns allen ja auch ganz arg ans Herz gewachsen, oder?

Autor: Werner Tiki Küstenmacher



Originalquelle dieses Textes ist http://home.rhein-zeitung.de/~rrondot/billgotchi.html.